„Wo fangen wir eigentlich an?“ – Wissenschaftliche Arbeit im Inclusive Minds Lab

Das erste Jahr „Inclusive Minds Lab“ ist fast vorbei und wir werfen einen Blick auf die Ergebnisse aus dem wissenschaftlichen Teil des Projektes: Johanna Prien-Kaplan hat sich als wissenschaftliche Leitung die ISO-Norm 30415 vor- und auseinander genommen, neu zusammengesetzt und auf die kommende Arbeit im Labor angepasst. Wie Johanna das angestellt hat und wie die Arbeit als wissenschaftliche Leitung war, erzählt Johanna im Blog:

Als wissenschaftliche Leitung ist meine wichtigste Aufgabe die Transferleistung, also theoretische Inhalte in eine gut verdauliche und praktisch anwendbare Form zu bringen. Damit die kreativen Designer*innen unserer Maßnahmen auf festem, wissenschaftlich fundiertem Boden stehen, ohne sich wochenlang einlesen zu müssen, habe ich die Theorien und Studien zusammengetragen und in einem Wiki für eine übersichtliche Anwendung präsentiert:

Wissenschaftliches Arbeiten ist für mich wie ein 1000 Teile Puzzle zu lösen…
…und ich liebe es. 🙂

Die Randstücke sind die verschiedenen Medien, aus denen ich meine Infos gezogen haben: Studien, wissenschaftliche Artikel in Sammelbänden, Monografien, Online-Artikel, Erfahrungsberichte, Nachrichtenbeiträge, etc. Hier findet man auch schon die erste Erkenntnis: All diese Inhalte greifen ineinander und ergeben nur Sinn, wenn sie zusammengesetzt werden. Es gibt keinen Anfang und kein Ende – keine Henne oder Ei – es existiert alles gleichzeitig und bedingt einander. Zu jedem Thema gibt es Beiträge in ganz unterschiedlicher Form, und in jedem der Beiträge kommen mehrere Themen vor. Hierdurch entsteht der Rand bzw. der Rahmen. Sicherlich ist er im Projekt nicht so ordentlich abgegrenzt wie in einem Puzzle, dennoch ergibt sich ein stabiles Gerüst, welches mit Inhalt gefüllt werden will.

Sobald dieser Rahmen stand, lag ein riesiger Haufen einzelner Mittelteile vor mir. Zitate, Aussagen, Fragen, Zahlen, Fakten. Erlebnisse, Ideen, Erfolge und Niederlagen, Theoreme und Definitionen. Um das Puzzle effizient zusammen zu setzen (denn sind wir mal ehrlich: so spaßig puzzeln auch ist, muss trotzdem ein Ende in Sicht sein), habe ich diese Teile weiter sortiert. So wie ich die Teile eines Puzzles nach Farben, Mustern oder auch nach Form sortiere, habe ich bei meiner Recherche mit Citavi gearbeitet, einer Software zur Literaturverwaltung. Hier habe ich meine „Puzzleteile“ getagged und so in Zusammenhänge gesetzt. Das Schöne an dieser Methode ist, dass man direkt sieht, welche „Haufen“ an „Teilen“ am größten sind, welche Themen und Begriffe also am häufigsten genannt werden und somit eine hohe Relevanz haben.

Arbeiten mit Citavi: Links die Liste der Schlagworte mit der Anzahl der vorhandenen Zitate in Klammern, in der Mitte die Liste der Zitate zu einem bestimmten Schlagwort, rechts ein ausgewähltes Zitat.

Der Vergleich zwischen wissenschaftlichem Arbeiten und einem Puzzle mag auf den ersten Blick nicht ganz passend erscheinen, da Forschungsergebnisse in unterschiedliche Kontexte eingeordnet werden können und die zeitliche Entwicklung der Themen eine wesentliche Rolle spielt. Dennoch verwende ich dieses Bild gerne, da das Gefühl ähnlich ist: Man sitzt zunächst vor einem Berg an Informationen und Ansätzen, und beginnt mit großer Vorfreude die Herausforderung, diese Stück für Stück zusammenzufügen. Der entscheidende Unterschied ist jedoch: Während ein Puzzle schnell an Reiz verliert, sobald es fertig ist, beginnt im Inclusive Minds Lab (IML) genau dann der spannende Teil. Die Frage lautet: Wie kann ich die gewonnenen Erkenntnisse so aufbereiten, dass sie für andere verständlich und greifbar werden?

Hierfür habe ich ein Wiki aufgesetzt und hier die Essenzen meiner Recherchen für die anderen Projektmitglieder zugänglich gemacht. Es gibt Abschnitte, welche die ISO-Norm erklären, Kapitel über „Best“ und „Worst Practices“, ein Glossar, das Begriffe in den Arbeitskontext von KMU setzt und Mind-Maps, die Zusammenhänge überschaubar darstellen.

Das wohl umfangreichste Kapitel in diesem Wiki befasst sich mit der ISO-Norm 30415, die auch die Grundlage für unsere Maßnahmen bildet. Eine meiner größten Herausforderungen war es, diese Norm vollständig zu verstehen und für andere zugänglich zu machen. Kurz gesagt: Die ISO ist alles und nichts. Das bedeutet konkreter: Die ISO deckt viele Bereiche ab, kann aber auf den ersten Blick schwer zu fassen sein. Sie teilt Unternehmen in verschiedene Kategorien wie „Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten“, „Produkte und Dienstleistungen“ sowie „Externe Stakeholder“ auf und benennt für jeden dieser Bereiche relevante Themen, die bei der Umsetzung von Diversity & Inclusion beachtet werden müssen. Um den Überblick zu behalten, musste ich die ISO erst einmal in ihre Einzelteile zerlegen und systematisch ordnen, bevor ich mich an die inhaltliche Bearbeitung machen konnte.

Die DIN ISO Norm 30415: Aufgeteilt nach Arbeitsbereichen die unterteilt sind in „Maßnahmen“ (lange Liste), „Indikatoren“ und „Ergebnisse“ (an der rechten Seite angeklebt)

Natürlich bin auch ich mittlerweile im digitalen Zeitalter angekommen, trotzdem war es sehr hilfreich, einmal alles auszudrucken, zu zerschneiden und so zusammen zu legen, dass sich ein Muster ergibt. Hier wurde dann der „Alles und nichts“- Charakter deutlich: Die ISO beschreibt jeden noch so kleinen Bereich in einem Unternehmen. In den 11 Kapiteln gibt es zum Beispiel in Kapitel 8 „Mitarbeitenden Lebenszyklus“ wiederum neun Unterkapitel. Von „Personalplanung“ über „Mobilität“ bis hin zu „Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses“ werden Maßnahmen vorgeschlagen wie „Erheben von Daten zum Niveau der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit den Richtlinien, Prozessen, Praktiken.“. Das klingt erst einmal gut, sagt im Detail jedoch gar nicht so viel aus. Wir wissen weder, wie Daten (ethisch korrekt) erhoben werden können, noch, was sie konkret aussagen und auch nicht, wie die Richtlinien, Prozesse und Praktiken aussehen sollten. Diese Maßnahme beschreibt also ein kleines Zahnrädchen in einer Maschine, die das Unternehmen letztendlich selbst konzipieren, bauen und ständig anpassen muss.

Die neun Kapitel des „Mitarbeitenden Lebenszyklus“ mit Maßnahmen, Indikatoren und Ergebnissen dargestellt als Diagramm

Trotzdem ist es natürlich sehr hilfreich, eine solide Grundlage wie die ISO-Norm zu haben, mit der Unternehmen bereits vertraut sind und die eine gewisse Überzeugungskraft mit sich bringt. Auch beim Verschlagworten wurde deutlich, welche Mechanismen und Themen besondere Aufmerksamkeit benötigen. Zentrale Werte wie ein respektvoller Umgang und faire Teilhabe stehen in jedem Kapitel im Vordergrund. Und das ist wohl die wichtigste Botschaft der ISO: Sie stellt die Menschenrechte als Grundlage in den Mittelpunkt, die allen gleichermaßen zugänglich sein sollen. Der Fokus liegt nicht auf Gewinnmaximierung, sondern auf Gleichberechtigung und einem inklusiven Arbeitsumfeld – beides wird hier nicht zur Diskussion gestellt.

Diese klare Haltung macht die ISO-Norm zu einem starken Leitfaden für Unternehmen, die echte Vielfalt und Inklusion leben wollen.

Mein Puzzle ist jetzt fertig.

Die Arbeit als wissenschaftliche Leitung hat mir große Freude bereitet und mir die Möglichkeit gegeben, Themen zu erforschen, die mir auch persönlich wichtig sind. An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich beim kreHtiv-Team bedanken – besonders bei Lukas und Franzi. Vielen Dank für euer Vertrauen und die großartige Zusammenarbeit. Der Austausch mit euch war unglaublich bereichernd, und der Workshop hat noch einmal gezeigt, was für ein wunderbares und offenes Team ihr seid. Ich bin gespannt auf die zukünftige Entwicklung des Inclusive Minds Lab und freue mich darauf, euch weiterhin begleiten zu dürfen!